China macht Islamisten für Anschlag verantwortlich
Andreas Lorenz, Peking
16 Tote, 14 Verletzte und eine verunsicherte Öffentlichkeit: Das ist die Bilanz des Anschlags in Chinas Provinz Uyghurien vier Tage vor Olympiastart. Geheimdienste vermuten radikale Uiguren hinter der Tat und wollen weitere Attacken verhindert haben - auch Entführungen von Sportlern.
Peking - Der Ort der Attacke war genau gewählt: Die Polizisten hatten sich zum Morgenappell vor einem der Polizeistation in Kashi benachbarten Hotel versammelt, als die Angreifer zuschlugen. (mehr...) Nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua waren 14 Polizisten sofort tot, zwei weitere erlagen auf dem Weg ins Krankenhaus ihren Verletzungen. 16 weitere Polizisten wurden verletzt. Die Angreifer wurden laut Polizei festgenommen, einer von ihnen wurde am Bein verletzt.
Die örtlichen Behörden wollten sich bislang nicht zu dem Vorfall in der nordwestchinesischen Provinz Uyghurien äußern. Das ehemalige Handelszentrum Kashi an der früheren Seidenstraße ist heute ein beliebter Ferienort und liegt 130 Kilometer von der Grenze zu Pakistan, Afghanistan und Kirgistan entfernt. In der Gegend leben muslimische Uiguren, die sich gegen die chinesische Herrschaft auflehnen. Einige von ihnen sind militante Islamisten.
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zu SPIEGEL WISSEN Xinhua meldete, die Polizei in Uyghurien/ Xinjiang habe zuvor Geheimdienstinformationen über einen möglichen Terroranschlag der Islamischen Bewegung Ost-Turkistan in der Zeit vom 1. bis zum 8. August erhalten. Diese Gruppe radikaler Uiguren wird von China und den USA als Terrororganisation eingestuft; die chinesischen Behörden verwenden den Namen jedoch häufig als Bezeichnung für eine größere Anzahl gewalttätiger Separatistengruppen.
In der Region gab es bereits in den neunziger Jahren Angriffe. Die Pekinger Regierung hat dort paramilitärische Einheiten stationiert und geht gegen nicht registrierte Moscheen und Religionsschulen vor, die nach Darstellung der Behörden die Aktionen fördern. Radikale Uiguren werden auch als größte Gefahr für die Olympischen Spiele gewertet. In den vergangenen Monaten vereitelte die chinesische Polizei nach eigenen Angaben Pläne, nach denen ein Passagierflugzeug gesprengt werden sollte. Geplant gewesen sei auch die Entführung von Sportlern und Journalisten.
Dieses Jahr 82 "Terroristen" festgenommen
Den ersten Anschlag an der alten Seidenstraße verübten uigurische Separatisten am 5. Februar 1991 auf einen Bus in Urumqi, der Hauptstadt der Autonomen Region Uyghurien. 20 Menschen kamen ums Leben oder wurden verletzt.
Die chinesischen Sicherheitsbehörden berichteten in den vergangenen Wochen immer wieder von Schusswechseln mit Unabhängigkeitskämpfern und ausgehobenen Terrorgruppen. In diesem Jahr seien insgesamt 82 "Terroristen" festgenommen worden, hieß es im Juni. So hätten Selbstmordattentate auf die Olympischen Spiele und Geiselnahmen von Sportlern verhindert werden können.
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Neuester: Heute 16:36 Uhr
von JWJ
Im März soll eine Uigurin versucht haben, eine Maschine der Gesellschaft China Southern auf dem Flug von Urumqi nach Peking in Brand zu setzen. Der Anschlag sei in letzter Minute vom Bordpersonal vereitelt worden.
Danach wurden fünf Uiguren bei einer Wohnungsrazzia in Urumqi, der Hauptstadt der Autonomen Region Uyghurien/Xinjiang, erschossen. Sie hätten vor ihrem Tod "Opfer für Allah" gerufen, berichtete Xinhua.
Im Juli tauchte ein Bekennervideo auf, in dem ein Kommandant namens "Seyfullah" unter dem Banner der Islamischen Partei Turkestan die Verantwortung für eine Reihe von Explosionen in vier chinesischen Städten übernahm. Dazu gehörten zwei Busexplosionen in der Stadt Kunming, bei denen zwei Menschen ums Leben kamen und 14 verletzt wurden. Seyfullah: "Unser Ziel ist es, die empfindlichsten Punkte in Bezug auf die Olympischen Spiele anzugreifen." Chinas Regierung allerdings schien dem Bekenntnis wenig Glauben zu schenken.
Die Crux: Chinas Öffentlichkeit erfährt nur selten Näheres über Täter und Hintergründe. Internationale Terrorismusexperten halten deshalb die Aussagen der Polizei über angebliche Attentate und Terrorgruppen zuweilen für übertrieben, zumal die chinesische Regierung dazu neigt, auch jene Muslime "Terroristen" zu nennen, die mit einem "Heiligen Krieg" nichts zu tun haben.
In Ausbildungslagern der Taliban in Pakistan
Allerdings zweifeln Fachleute nicht an der Existenz von militanten Gruppen, die ein islamisches Ostturkestan anstreben. In Ausbildungslagern der Taliban in Pakistan wurden Uiguren gefangen genommen. Zeitweise saßen in Guantanamo 17 Uiguren mit chinesischer Staatsbürgerschaft, im Jahr 2006 entließen die Amerikaner fünf, die in Albanien vorläufigen Unterschlupf fanden.
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Chinas Angst vor der Freiheit YU Haibo/ sinopictures
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AbonnementProminenteste Vertreterin der uigurischen Sache ist die Geschäftsfrau Rebiya Kadeer, die wegen "Verrats von Staatsgeheimnissen" fünf Jahre im Gefängnis saß und mittlerweile in den USA lebt. Jüngst wurde sie mit anderen Dissidenten von US-Präsident George W. Bush empfangen. Kadeer lehnt Gewalt ab.
Uyghurien/Xinjiang gehörte bis auf eine kurze Periode in den vierziger Jahren stets zu China. Damals hieß es "Republik Ostturkestan." Bis in die fünfziger Jahre war der sowjetische Einfluss sehr stark. Noch heute existieren enge Verbindungen zum russischen Nachbarn, viele Ladenschilder in Urumqi sind in russischer Sprache. In der Region leben mittlerweile über 10 Millionen Uiguren.
Viele lehnen eine Abspaltung von China ab, plädieren aber für mehr religiöse und kulturelle Freiheit. Sie beklagen sich darüber, dass Peking eigenständige Debatten über die Zukunft Uyghurien/Xinjiangs als Zeichen für "Separatismus" auslegt und mit hohen Gefängnisstrafen bedroht.
China hat nach 1949 sogenannte Produktionsbrigaden ("Bingtuan") in Uyghurien/Xinjiang gegründet, eine Kombination aus Milizen, Militärs und Bauern, die gleichzeitig für Sicherheit und Arbeitsplätze in der Region sorgen sollen und riesige Landstriche beherrschen.
IOC spricht China Vertrauen aus
Exil-uigurische Gruppen haben nach eigenen Angaben keine Hinweise auf die Hintermänner des aktuellen mutmaßlichen Terroranschlages in Nordwestchina. Der Sprecher des in München ansässigen Weltkongresses der Uiguren, Dilxat Raxit, sagte, es gebe keine Verbindungen zu der von China immer wieder genannten Ostturkestanischen Islamischen Bewegung (Etim). Er machte die repressive chinesische Politik in Uyghurien/Xinjiang verantwortlich für die wachsenden Konflikte in der Region. "Viele Uiguren halten Chinas Unterdrückung nicht mehr aus", sagte Raxit. "Uns bereitet am meisten Sorge, dass die Politik Chinas das uigurische Volk auf den Weg der militärischen Konfrontation führt oder zwingt."
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Ingenieursverband: Jede fünfte deutsche Firma verlässt China (03.08.2008)Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat der Regierung in Peking vier Tage vor Beginn der Olympischen Spiele das Vertrauen ausgesprochen. "Was die Olympischen Spiele angeht, vertrauen wir darauf, dass die Behörden alles Menschenmögliche tun werden, um eine sichere Veranstaltung zu gewährleisten", sagte IOC-Sprecherin Giselle Davies. Zu dem Angriff selbst wollte sie bislang keine Stellungnahme abgeben.
Mit Material von AP, AFP und dpa
Von:http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,569894,00.html
Montag, 4. August 2008
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