Sonntag, 29. Juni 2008

Ein Memorandum der Gesellschaft für bedrohte Völker
Massenverhaftungen und Hinrichtungen in Uygurien endlich stoppen


Ulrich Delius

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist äußerst besorgt über anhaltende Verletzungen der Menschenrechte der rund 7,2 Millionen Uiguren in der im Nordwesten Chinas gelegenen Provinz Xinjiang (Ostturkestan). Im Februar 1997 eskalierte erneut die gewaltsame Unterdrückung in Ostturkestan, nachdem zwischen dem 20. April und 9. Juni 1996 bereits mehr als 2.700 Uiguren nach Angaben des Direktors für öffentliche Sicherheit in Xinjiang, Chen Jinchi, verhaftet worden waren. (China Business Times, 10.6.1996) Uigurische Exilkreise sprachen sogar von bis zu 18.000 Verhaftungen.

Während des Fastenmonates Ramadan provozierte die chinesische Polizei Unruhen in der mehrheitlich von muslimischen Uiguren bewohnten Stadt Yining (Uigurisch: Gulja, Region Ili). Als sich am Abend des 5. Februar 1997 zahlreiche Frauen und Jugendliche in Privathäusern trafen, um das Fest des 27. Tages des Ramadan zu begehen, drangen mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten in ihre Wohnungen ein und verhafteten alle Gläubigen. Die Behörden hatten 1996 jegliche Versammlung in Privatwohnungen verboten, um die Muslime an einer Ausübung ihres Glaubens zu hindern und die Verbreitung des muslimischen Glaubens einzuschränken. Als sich am folgenden Tag Angehörige vor den Behörden versammelten, um die Freilassung der Verhafteten zu fordern, habe die Polizei zuerst mit Wasserwerfern versucht, die Menge auseinanderzutreiben, berichteten Augenzeugen. Da eisige Kälte mit Temperaturen von 20 bis 30 Grad unter dem Gefrierpunkt geherrscht habe, seien 146 Personen unter den Strahlen der Wasserwerfer erfroren. Nur wer sich rechtzeitig seine Kleider vom Leib reißen konnte, habe überlebt, berichteten Flüchtlinge im angrenzenden Kasachstan.

Als die Proteste nicht abklangen, seien die Ordnungskräfte mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstranten vorgegangen und hätten 90 Personen erschlagen. Die achtjährige Fatima, die von den Sicherheitsbehörden die Freilassung ihres Vaters verlangt habe, sei niedergeschossen worden. Ähnlich soll es der schwangeren Gulzira ergangen sein, als sie um die Freilassung ihres Mannes bat. Als sich immer mehr Menschen den Protesten anschlossen, habe die Polizei wahllos in die Menge geschossen. 200 Menschen seien dabei getötet worden. Angesichts der Brutalität der Sicherheitskräfte hätten daraufhin aufgebrachte Uiguren Han-Chinesen angegriffen, die in den letzten Jahren in die Provinz eingewandert seien. Rund 100 Zuwanderer seien dabei zu Tode gekommen. Mindestens 2.000 Uiguren seien während der Unruhen verhaftet worden. Bereits kurz nach Ausbruch der Unruhen seien 30.000 chinesische Soldaten aus Gansu nach Yining verlegt worden und hätten die Stadt weitgehend von der Außenwelt abgeriegelt. Obwohl die Sicherheitsmaßnahmen inzwischen gelockert wurden, berichten Augenzeugen über eine starke Militärpräsenz im öffentlichen Leben in der Region Ili.

Behörden unterbinden unabhängige Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen

Bislang ist es leider nicht möglich, diese Augenzeugenberichte durch Recherchen unabhängiger Beobachter vor Ort auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die chinesischen Behörden sind darauf bedacht, den Mantel des Schweigens über die Unruhen in Yining zu legen und verweigern Menschenrechtsorganisationen und Journalisten den Aufenthalt in der Region Ili. Nach offiziellen Angaben sollen bei den Protesten nur zehn Menschen getötet worden sein. Doch die Augenzeugenberichte haben ernsthafte Zweifel an der offiziellen Darstellung entstehen lassen.

Getarnt als Touristen reiste angesichts der restriktiven Informationspolitik der Behörden ein dreiköpfiges Fernsehteam der britischen BBC im April aus dem nahegelegenen Kasachstan nach Yining, um Überlebende des Massakers zu interviewen und den genauen Tathergang zu recherchieren. Bereits zwei Tage nach ihrer Ankunft wurden die Journalisten festgenommen. Nach zehntägiger Haft wurden sie ausgewiesen und nach Pakistan abgeschoben. (South China Morning Post, 25.4.1997)

China will Widerstand der Uiguren "auslöschen"

Die Unruhen in Yining, die trotz chinesischer Desinformationspolitik weltweit Aufsehen erregten, blieben auch in China nicht ohne Folgen. So erklärte Staatspräsident Jiang Zemin, die gesamte Provinz Xinjiang sei die größte Bedrohung für seine Regierung und die nationale Einheit. (South China Morning Post, 30.7.1997) Während die Lage in Tibet "unter Kontrolle" gebracht sei, würden "feindliche Kräfte" in Xinjiang Hilfe aus einigen zentralasiatischen Staaten, wie Kasachstan, erhalten. Mitarbeiter des Pekinger Ministeriums für Öffentliche Sicherheit warfen dem US-Geheimdienst CIA vor, "muslimische Separatisten" zu unterstützen. (CND-Global, 13.8.1997)

Auch der Parteisekretär der Provinz, Wang Lequan und der Vorsitzende der Regionalregierung, Abdulahat Abdurixit, erklärten in einem Bericht, daß sich der Kampf gegen den "Separatismus" verschärft habe. Muslimische Fundamentalisten und Unabhängigkeitskämpfer würden immer aktiver, warnten die Politiker. (South China Morning Post, AFP, 21.8.1997) Nach der Ermordung mehrerer Angehöriger der Sicherheitskräfte drohten Lequan und Abdurixit: "Die Partei und die Regierung wird dies nicht vergessen. Das Volk wird es nicht vergessen." Der Vorsitzende des Volkskongresses von Xinjiang, Amudun Niyaz, forderte sogar kürzlich: "Der Kampf gegen den Separatismus ist ein absolutes Muß und wir sollten ihn ähnlich führen, wie wir mit Baumwoll-Schädlingen umgehen." (AFP, South China Morning Post, 3.7.1997)

Schädlinge hatten in den letzten Jahren die Baumwollernte in der Provinz zerstört, die Chinas wichtigster Lieferant dieses Rohstoffes ist. Vor Parteikadern in der Stadt Kashgar rief Niyaz auf: "Männer, Frauen, alte und junge Leute sollten uns dabei unterstützen, den Separatismus, den Schädling unserer Nation, auszurotten," berichtete die Tageszeitung Xinjiang Daily. Einer der stellvertretenden Sekretäre der Kommunistischen Partei in Xinjiang, Zheng Shenato, lehnte jedes Zugeständnis gegenüber den "Sezessionisten" ab und erklärte: "Wir können nicht nur nicht die geringste Freiheit gewähren, sondern wir müssen den illegalen religiösen Aktivitäten und den Aktionen derer, die sich der Partei widersetzen, ein Ende setzen." (South China Morning Post, 21.8.1997)

Verhaftungswelle in Yining

Den harschen Worten ließen die Behörden auch Taten folgen. Mit beispiellloser Gewalt ging man gegen mutmaßliche Teilnehmer an den Unruhen in Yining vor, um potentielle Demonstranten vor weiteren anti-chinesischen Protesten abzuschrecken. So wurden am 24. April drei Uiguren wegen Beteiligung an den Protesten in Yining zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Die Sicherheitsbehörden weigerten sich, den Angehörigen die Leichname auszuhändigen und verbrachten die Toten an einen unbekannten Ort. Weitere 27 Personen wurden zu Haftstrafen zwischen sieben Jahren und lebenslang verurteilt. (AFP, 28.7.1997)

Augenzeugen berichteten, die Verurteilten seien nach dem Prozeß mit gefesselten Händen und einem Knebel im Mund auf Lastwagen durch die Stadt Yining gefahren worden. Bewaffnete Soldaten hätten die Uiguren gezwungen, niederzuknien und ihre Köpfe gesenkt zu halten. Als trotz starker Militärpräsenz mehr als hundert Bewohner der Stadt unter Rufen wie "Lebt Wohl", "Gott möge Euch helfen", "Gott ist groß" und "Die Wahrheit wird bekannt werden" dem Lastwagenkorso folgten, hätten Soldaten das Feuer eröffnet. Drei Menschen seien getötet und zehn verletzt worden. In den offiziellen Medien wurde das Massaker damit gerechtfertigt, die Soldaten hätten nur ihre Pflicht getan und verhindert, daß ein gewalttätiger Mob die Gefangenen befreie. (Reuter, 28.7.1997)

Am 30. Mai wurden erneut acht Uiguren zum Tode verurteilt und hingerichtet. (SZ, 31.5.1997) Ihnen wurde Beteiligung an den Unruhen in Yining sowie an drei Bombenanschlägen vorgeworfen, bei denen in der Stadt Urumtschi am 25. Februar 1997 neun Menschen getötet und 74 verletzt wurden. (AFP, 28.7.1997)

Am 22. Juli wurden nochmals neun Uiguren wegen der Unruhen in Yining zum Tode verurteilt und exekutiert. Gegen drei weitere Personen wurde das Todesurteil mit einem Vollstreckungsaufschub verhängt. Gemäß Paragraph 43 des Strafgesetzbuches kann der Vollzug der Strafe für zwei Jahre ausgesetzt werden, "falls es sich nicht als unbedingt nötig erweist, den Verurteilten sofort hinzurichten". Zeigen die Verurteilten "tätige Reue" in Arbeits- und Umerziehungslagern, so kann ihre Strafe in lebenslange Haft umgewandelt werden. Sieben Personen müssen lebenslange Haftstrafen verbüßen, ein Angeklagter wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, weitere neun Personen erhielten Haftstrafen bis zu 15 Jahren. (Urumqi Xinjiang Television Network, 23.7.1997)

So wurden wegen der Unruhen in Yining im Februar 1997 bislang mindestens 23 Uiguren zum Tode verurteilt (20 Todesurteile wurden vollstreckt). Mindestens 44 Personen müssen zumeist langjährige Haftstrafen verbüßen. Sicherlich wurden während der Unruhen in Yining Vergeltungsakte von Uiguren begangen, die strafrechtlich geahndet werden müssen. Merkwürdig ist jedoch das Mißverhältnis zwischen der Strafverfolgung von Uiguren und derjenigen von Mitarbeitern der Sicherheitskräfte, die für die Massaker verantwortlich sind. Es ist nicht bekannt, daß ein Angehöriger der Sicherheitskräfte bislang wegen Beteiligung an den schweren Menschenrechtsverletzungen juristisch belangt wurde.

Allein im April und Mai 1996 soll es 45 Aufstände und öffentliche Proteste in 15 Städten der Provinz gegeben haben, bei denen nahezu 1.000 Menschen getötet worden sein sollen. Unter dem Vorwand der Verbrechensbekämpfung wurden im Rahmen der Kampagne "Schlag hart zu" Massenverhaftungen vorgenommen, mit denen systematisch der Widerstand der Uiguren gegen die Sinisierung und Zerstörung ihrer Region zerschlagen werden soll. (Newsweek, 22.7.1996) Insgesamt sollen 183 Uiguren zwischen April 1996 und Juli 1997 hingerichtet oder bei Fluchtversuchen aus dem Gefängnis getötet worden sein, erklären uigurische Exilkreise. (AFP, 28.7.1997) Ihren Schätzungen zufolge sollen 62.000 Uiguren während dieses Zeitraumes verhaftet worden sein. Angesichts der äußerst restriktiven Informationspolitik der Behörden in Xinjiang können diese Zahlen zur Zeit nicht überprüft werden. Tatsache ist jedoch, daß es zahllose Proteste gegen die Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Sicherheitskräfte seit April 1996 gegeben hat, und daß die Behörden darauf mit Massenverhaftungen reagieren.

Militärpräsenz wurde verstärkt

Mit aller Gewalt versucht Peking, weitere Proteste in Ostturkestan zu unterdrücken. So wurde der Minister für Öffentliche Sicherheit Tao Siju höchstpersönlich mit einem Stellvertreter nach Xinjiang beordert, um die blutige Repression zu koordinieren. (Hong Kong Ping Kuo Jih Pao, 19.4.1997) Weitere fünf Divisionen der chinesischen Armee (rund 50.000-60.000 Mann) sowie noch mehr Polizisten wurden in die Unruheprovinz geschickt. Dort wird die Polizei bereits von 100.000 Milizionären unterstützt, die auf 58 Staatsfarmen des Xinjiang Production and Construction Corps (XPCC) zur militärischen Sicherung der 2.100 Kilometer langen Grenze zu den Nachbarländern stationiert sind.

Mit einer großangelegten Umerziehungs- und Propaganda-Kampagne will die Kommunistische Partei den "sozialen Frieden" wiederherstellen, d.h. jegliche Proteste wirksam unterbinden. (FAZ, 14.2.1997) So wurden bereits 17.000 Regierungsvertreter nach offiziellen Angaben zu den Brennpunkten in Xinjiang versetzt. (The Washington Post, 17.7.1997) Regionale Medien berichteten darüber, daß 260 Verantwortliche in den besonders unruhigen Kommunen ihrer Posten enthoben wurden. Die staatlichen Medien warfen ihnen zum Teil vor, Sympathien für die Anliegen der Demonstranten gezeigt zu haben. (The Washington Post, 17.7.1997)

Keine Glaubensfreiheit für Muslime

Schon im Mai 1996 hatte die Führung der Kommunistischen Partei in Xinjiang angeordnet, die Behörden müßten den Druck und die Verbreitung aller "nationalistischen" oder religiösen Veröffentlichungen unterbinden und den Einfluß muslimischer Kreise an den Schulen zurückdrängen. Der lokale Fernsehsender Xianjiang TV zitierte führende Vertreter der Provinzregierung und der Kommunistischen Partei nach einem Treffen am 30. April 1996 mit der Forderung, "die Kampagne muß sich besonders auf Gewalttäter und Terroristen konzentrieren, die von nationalistischen separatistischen Kräften aus dem Ausland geführt und manipuliert werden". Noch deutlicher wurde Peking auf einer Tagung der Kommunistischen Partei in der Provinzhauptstadt Urumtschi vom 3. bis 6. Mai 1996, als es in einer Anweisung feststellte, daß "nationalistischer Separatismus und illegale religiöse Aktivitäten die Hauptgefahren für die Stabilität in Xinjiang sind". In den folgenden Wochen wurde die Welle der Repression auf Schulen und Universitäten ausgedehnt. Auch wurde der Bau neuer Moscheen verboten, und an den Grenzen wurden alle Reisenden verstärkt nach religiösen Schriften und Veröffentlichungen uigurischer Exilorganisationen durchsucht.

Bereits seit 1990 müssen religiöse Führer "die Führung der Kommunistischen Partei unterstützen...und nationalen Separatismus bekämpfen". Wer die Order aus Peking mißachtet, riskiert den Widerruf seiner Anerkennung, da sich alle führenden Persönlichkeiten der Kirche jedes Jahr einer Prüfung durch pro-chinesische Organisationen unterziehen müssen.

Nach den Unruhen in Yining wurde die Freiheit der Religionsausübung erneut eingeschränkt. So wurden 133 Moscheen geschlossen und 105 unerlaubt eingerichtete Koranschulen aufgelöst. (AP, 26.6.1997 / FR, 28.6.1997) Lehrer, die verdächtigt wurden, "muslimischen Separatismus" zu unterstützen, wurden entlassen. 500 Schüler wurden von den Schulen verwiesen. (AP, 26.6.1997) Die chinesischen Behörden sehen die muslimische Religion als besonderes Hemmnis bei der Assimilierung der Uiguren an und messen daher der Einschränkung der Glaubensfreiheit große Bedeutung bei.

Kriminalisierung des Widerstandes

Systematisch versucht Peking, den Widerstand der Uiguren und anderer Völker in Ostturkestan gegen die Zerstörung ihres Landes und ihrer Kultur zu kriminalisieren. Wer in Xinjiang öffentlich für seine Menschenrechte eintritt, wird pauschal als "muslimischer Nationalist" und "Separatist" verteufelt und strafrechtlich verfolgt. Jede offene Diskussion über die Rechte der ortsansässigen Bevölkerung wird somit unmöglich gemacht. Wie absurd der Vorwurf ist, "muslimische Extremisten" seien allein für die Unruhen verantwortlich, wird bei einem Blick auf die Bevölkerungsstruktur der Provinz deutlich. Siebzehn verschiedene ethnische Gruppen leben heute entlang der historischen Seidenstraße, die traditionell eine Brücke zwischen Ost und West war. Zum Islam bekennen sich die turkstämmigen Völker - die Uiguren, Kasachen, Usbeken, Kirgisen und Tataren -, die indoeuropäischen Tadschiken und das chinesischstämmige Volk der Hui. Die Mongolen, Mandschu, Tibeter und Gelbuiguren sind Buddhisten, während die Russen orthodoxe Christen sind.

Alle diese Völker sehen Ostturkestan als ihre Heimat an. Gemeinsam versuchen sie die schleichende Auslöschung ihrer Nationen zu verhindern und setzen sich für Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung ein. Je verzweifelter ihr Überlebenskampf wird, desto mehr wird es zu Terrorakten kommen. Die jüngsten Bombenanschläge sowie die Morde an chinesischen Sicherheitskräften liefern den chinesischen Behörden erneut einen Vorwand, um mit aller Härte nicht nur gegen die Straftäter, sondern auch gegen Menschenrechtsaktivisten vorzugehen. Die Mehrheit der Menschen in Ostturkestan lehnt terroristische Gewalt ab, um ihre Anliegen durchzusetzen. Sie wissen, daß bewaffneter Widerstand nur zur Auslöschung ihrer Völker führen würde. (pogrom Nr. 194, Mai 1997)

Sinisierung ändert Bevölkerungstruktur

Die 7,2 Millionen Uiguren fürchten, zur Minderheit im eigenen Land zu werden, da Ostturkestan systematisch sinisiert wird. Die Situation der Uiguren ist durchaus mit der Lage der Tibeter vergleichbar. So nahm der Anteil der Han-Chinesen zwischen 1949 und 1973 von 3,7 Prozent auf fast 38 Prozent zu. Heute stellen die Uiguren nur noch 45 Prozent der Bevölkerung, während die Han-Chinesen mit 41 Prozent die zweitgrößte ethnische Gruppe sind. Die Spannungen zwischen den chinesischen Zuwanderern und der ortsansässigen Bevölkerung werden von den chinesischen Behörden und Unternehmen geschürt, indem Han-Chinesen in allen gesellschaftlichen Bereichen bevorzugt werden. Alle leitenden Posten in der Verwaltung und im öffentlichen Leben werden an Han-Chinesen vergeben, für Uiguren bleiben nur minderwertige Aushilfstätigkeiten. Die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua räumte kürzlich ein, daß Hunderttausende Wanderarbeiter aus anderen Regionen Chinas zur Ernte nach Xinjiang kommen. (South China Morning Post, 20.5.1997) Dank gezielter Förderung der Behörden lassen sich jährlich bis zu 300.000 Neusiedler in Ostturkestan nieder.

Die Regierung fördert die Sinisierung, da Ostturkestan reich an Bodenschätzen ist. Ein Drittel der Erdölvorräte Chinas lagern in der Region. Würde China die Ölvorkommen verlieren, müßte es Erdöl importieren. Auch gibt es bedeutende Gasvorkommen und andere Rohstoffressourcen (Uran, Platin, Gold, Silber, Eisen, Kupfer, Schwefel, Zinn, Kohle). Strategisch ist Ostturkestan bedeutsam, da es in einer rohstoffreichen Grenzregion gelegen und Sitz des chinesischen Atomversuchszentrums ist. Die mindestens 45 Atomtests, die China seit 1964 in dem Versuchsgelände bei Lop Nor durchführte, haben katastrophale gesundheitliche Folgen für die Uiguren, deren ganzes Ausmaß bislang noch unabsehbar ist. Mehrere tausend Menschen führen ihre Krebsleiden auf die Atomversuche zurück.

Uigurische Kultur wird zerstört

Die Uiguren klagen China auch der Unterdrückung ihrer Kultur an. Kulturelle Eigenheiten werden nur gefördert, wenn sie sich, wie die Folkloretänze, für Touristen vermarkten lassen und China Devisen verschaffen. Nur 16 Prozent aller Veröffentlichungen in Ostturkestan erscheinen in Turksprachen. Wer über uigurische Geschichte und Kultur schreibt und die offizielle chinesische Position mißachtet, wird als Propagandist für "Nationalismus" und "Separatismus" vor Gericht gestellt, die Bücher werden verboten und der Verlag geschlossen. In den Schulen wird das Erlernen der uigurischen Sprache behindert.

Der Überlebenskampf der Völker Ostturkestans wird immer verzweifelter und somit auch unberechenbarer. Auf ausländische Unterstützung können die Bewohner Xinjiangs kaum hoffen. Zwar verurteilte das Europäische Parlament in einer Resolution am 10. April 1997 die Verletzung des Rechts auf Religionsausübung, die willkürlichen Verhaftungen und Hinrichtungen sowie die Zerstörung der uigurischen Kultur. Auch forderten die Parlamentarier die Freilassung der inhaftierten Demonstranten in Yining sowie einen freien Zugang von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten in die Region. Doch vergeblich warteten die Völker Ostturkestans bislang darauf, daß sich die europäischen Regierungen nicht nur zu den schweren Menschenrechtsverletzungen in Tibet öffentlich äußern, sondern sich auch Xinjiang zuwenden. Selbst in den neugegründeten zentralasiatischen Nachbarstaaten sind die Regierungen entgegen den Beschuldigungen Pekings peinlichst bemüht, die chinesische Führung nicht zu verärgern. Am 26. April 1996 unterzeichnete China ein Abkommen mit Rußland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, in dem sich diese Staaten zum gemeinsamen Kampf gegen "Separatisten" verpflichteten.

Forderungen an die chinesische Regierung

Die Gesellschaft für bedrohte Völker appelliert an die chinesische Regierung:

Die politischen Gefangenen in der Provinz Xinjiang unverzüglich freizulassen,

die Kriminalisierung der Menschenrechts- und Demokratiebewegung in Xinjiang zu unterbinden,

weitere Massenverhaftungen zu unterlassen,

Menschenrechtsorganisationen und Journalisten freien Zugang in die Krisenregion zu gewähren,

eine unabhängige Untersuchung der Massaker in Yining zu gestatten und unverzüglich Strafverfahren gegen die Verantwortlichen einzuleiten,

die Religionsausübung nicht länger zu beschränken,

die Neuansiedlung von chinesischen Zuwanderern einzustellen,

die nominell bestehende Selbstverwaltung der "Autonomen Region Xinjiang" auch tatsächlich zu verwirklichen,

die seit altersher ansässige Bevölkerung stärker an der wirtschaftlichen Entwicklung zu beteiligen.


Von:http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=113&highlight=uigure

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